thuja hat geschrieben: ↑5. Jul 2024, 00:26 Laugenbrötchen mit Butter, Nutella, Frischkäse und ganzem Kümmel.
Das ist dann doch sehr, sehr regional.
Ebenfalls sehr regional: Rosinenstuten/ Rosinenbrot mit Butter bestrichen und Bierschinken drauf. Es muss aber der Bierschinken vom Fleischer meines Vertrauens sein, mit anderem schmeckt es nicht so.
Der Gammelhai (Haukarl) riecht übrigens schon nicht gut, wenn er noch nicht "gammel" ist, sondern frisch aus dem Wasser kommt. "Gammel, gamla" etc heißt übrigens in skandinavischen Sprachen nichts anderes als "alt".
Gemüsegierhals, Sommergegner und "Schönwetter"-Leugner
Ich wohne dort, wo auf dem Regenradar immer das Wolkenloch ist.
"(…) die abstrakten worte, deren sich doch die zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches urteil an den tag zu geben, zerfielen mir im munde wie modrige pilze." hugo von hofmannsthal – der brief des lord chandos
Will diesen Thread mal wiederbeleben, weil ich gerade "Essen und Trinken im Mittelalter" von Ernst Schubert lese. Das ist deutlich älter als Alberto Grandis herrliche Publikation und auch weit fundierter, die herausgearbeiteten Erkenntnisse allgemeiner aber erstaunlich ähnlich wie Grandis Betrachtungen.
Der politische und gerade zum Erbrechen zwanghafte aber völlig wertlose Ablenkung mit rechts, links, national ist auch dort nicht Thema, sondern Essen, Lebensmittel, Ernährungsgeschichte, Kultur, Sitten, Soziales. Unterlegt mit erstklassiger Quellennennung, was Grandi oft unterlässt.
Beschrieben und bewiesen wird dort eine hohe kulinarische Mobilität. Es gibt praktisch keine Gerichte, die heute für nationale Identität stehen und tatsächlich in der Frühneuzeit nachweisbar sind. All diese "typischen" Gerichte haben eine oft erstaunlich kurze Geschichte, fast immer nur Jahrzehnte, keines älter wie das frühe 19. Jahrhundert. Es gab bis in die Neuzeit keine stammspezifische Küche. „Den Speiseplan des gemeinen Mannes diktierte die Natur seiner Umgebung, nicht aber die Tradition einer angeblichen regionalen Identität oder gar die Lektüre eines Kochbuches.“ heisst es da. Und selbst die wenigen alten Kochbücher erlauben keinen Rückschluß auf die Normalität, auf typische Gerichte, auf einen herrschenden Stil, auf eigene Erfindungen. Sie gehörten zur Oberschicht, die von Nahrungssorgen unberührt blieb, importieren konnte, nicht nur Lebensmittel sondern auch Koch und Technik. Viel Unbeständigkeit, niemals stilprägend.
Was in beiden Werken weniger erkannt wird, ist ein dynamischer Meta-Stil, den ich für sehr europäisch halte. Dieses hin- und her, den Einbau und die schnelle Entwicklung neuer Lebensmittel bis hin zum heute Stilprägenden, das ist sehr europäisch und macht den ganzen Kontinent zur Dauer-Fusionküchenmaschine. Beispielsweise neue amerikanische Lebensmittel einzubauen, zu entwickeln, zu verfeinern, das passiert nur in Europa in dieser Breite, anderswo nur punktuell. Bis heute ist die Kartoffel in Asien trotz aller politischen Anstrengungen in China (weil sie auf schlechtem Boden mit guten Erträgen wächst) nicht integriert worden, sie schaffen es einfach nicht. Tomaten ebenso, schon in der Türkei bleiben Kartoffeln die Verballhornung einer europäischen Zubereitung und Tomaten eine Randerscheinung, die keine echte Verbindung geschafft hat - ein extremer Gegensatz zum europäischen Umgang mit den neuen Pflanzen. Für Kürbisse gilt das noch teilweise, für Mais auch, sie bleiben woanders randständig oder Tierfutter, einzig Paprika haben -als Gewürz, nicht als Gemüse- etwas Breite geschafft.
Das gilt auch in kleinerem Rahmen. Man erinnere sich, in welchem kurzen Zeitraum schnell und vollständig Lebensmittel und Zubereitungen aus Italien in Deutschland populär wurden. Noch in den 1980er Jahren waren die allermeisten Dinge von dort hier völlig unbekannt. Mittlerweile importiert, modifiziert, weiterentwickelt und manchmal auch wieder re-exportiert. DAS ist der wahre regionale Stil, diese Fähigkeit zum Wandel und zur ständigen Entwicklung, zur Fusion, zum Neuen.
Diese dynamische Art ist wohl richtig als typisch europäisch - eher typisch mitteleuropäisch - erkannt. Aber es wurden und werden immer nur gewisse Elemente fremder Küchen annektiert, oft nicht einmal die (angeblich?) landestypischen Gerichte. Musterbeispiel ist Jiao zi, die Teigtasche, die für das riesige Land China mit Ausnahme von Shanghai das beliebteste Gericht ist, bei uns aber selbst in chinesischen Restaurants bis vor wenigen Jahren nicht zu bekommen war, und die meisten Deutschen kennen sie bis heute nicht.
Nudeln und Pizza gelten bei uns als typisch italienisch, nicht aber die viel stärker gemüsebetonte Küche, höchstens noch Fische und Meerestiere, und von Fleischgerichten vielleicht noch die Leber venezianisch. Und von den über 400 Nudelsorten werden nur ganz wenige bei uns angeboten, meistens die in Italien selbst unbekannten Spaghetti Bolognese. Nudeln sind in Italien zudem nur eine Vorspeise, und in meinem dünnen Bändchen "Die Rezepte der traditionellen Italienischen Küche" (die es ja gar nicht geben soll) sind daneben 25 andere Vorspeisen angeführt, die wohl kaum ein Deutscher kennt. Und was kennt man von der vorzüglichen türkischen Küche außer Döner und Kebab? Die ungeheure Adaption von USA-Gerichten wie Hamburger ist mir immer noch unverständlich, eher noch die Vorliebe zu Grillgerichten.
Dass selbst regionale Gerichte meist keine lange Tradition haben, weiß ich vom angeblich typisch bayerischen Schweinsbraten - in den Speisekarten Münchner Gaststätten vor dem Ersten Weltkrieg findet man ihn so gut wie nicht, aber dafür mehrere Kalbsgerichte. Auch die Bierliebe der nicht nur Süddeutschen stammt erst aus der Zeit nach dem Dreiißgjährigen Krieg, vorher war Bayern Weinland, was die alten Flurnamen selbst auf dem Weihenstephaner Hügel bezeugen...
Das sehe ich ganz anders. Zum Einen bedeutet diese Dynamik selbstverständlich nicht, dass einfach alles aus einer anderen Küche übernommen wird (ein Obermengenprinzip wäre schon rein quantitativ unmöglich) und vor allem auch nicht irgendeine wie auch immer definierte Authentizität (die Grandi äusserst gekonnt durchleuchtet und verneint) - grad das Gegenteil ist das Fall! Abschauen, Veränderung, neu abmischen, anpassen... das gibts übrigens auch in Asien, wenn auch nur punktuell, etwa bei der japanische Tempura-Zubereitungsvariante, übernommen von den Portugiesen und dann eigenständig weiterentwickelt.
Speziell für Italien wäre das auch völlig absurd, dort haben sich -zig Regionenküchen entwickelt, noch nicht einmal Italien selbst hat alles von sich übernommen - tauscht aber ebenso aus. Beispiel Venezien, wo Nudeln keine grosse Rolle spielen oder völlig anders gebaut sind, die venezianische Pasta heißt Bigoli und ist wie dicke Spaghetti aus Buchweizen oder Vollkorn und normalerweise Eiern. Dafür Risottos, sehr viele Mais- und Kürbisgerichte (Reis aus Asien, Mais und Kürbis aus Amerika).
Ich denke, es kommt halt immer darauf an, wie isoliert eine Gegend ist.
Hafenstädte und andere Umschlagpunkte im Handel waren schon immer Schmelztiegel, für Menschen, Sprache und auch Essen.
Beispiel Currywurst.
Da haben jetzt 2 findige Menschen in Kleinarbeit herausgefunden, dass es in den 30er Jahren ein Imbisslokal in Duisburg gab, das Currywurst im Angebot hatte.
Duisburg als Hafenstadt hatte Verbindungen nach Hamburg und ließ sich von einem Gewürzhandel mit Curry beliefern.
Allerdings war diese Idee den Nazis ein Dorn im Auge und so konnte er erst nach dem Krieg wieder damit anfangen.
Politik spielt also auch eine Rolle.
Was wohl eher bis in die 70er und 80er recht streng regional war, ist Brot.
Ich weiß, in meiner Kindheit hatte der Bäcker genau diese Brotsorten:
Stuten mit und ohne Rosinen, Teebrot, Kassler, Roggenmischbrot.
Brötchen gab es normal, mit Mohn, mit Sesam, Roggenbrötchen, Stütchen mit Rosinen.
Das war die ganze Auswahl.
War ich mit dem CVJM in der Eifel, gab es zum Frühstück auf einmal "ganz anderes" Brot, welches wir nicht gewohnt waren.
War ich in Norddeutschland, vermisste ich unsere Kaiserbrötchen, die kannte dort keiner.
"Es wächst mehr im Garten als der Gärtner sät."
spanisches Sprichwort
In Südamerika kann man das gut beobachten. Die beste und vielfältigste Küche hat sich in den Ländern entwickelt, in denen Austausch herrschte, allerdings auch eine weitere Zutat, nämlich eine Dynamik der Menschen - ein blosser Import reicht nicht, führt nur zu neuen Inzuchtblasen. Die so gern betriebene Jagd nach Authentizität ist eigentlich ein Rückschritt in diese Inzucht hinein.
So schätzen viele Leute die Küche in Peru als sehr gut ein, als die Beste Südamerikas. Inkas und Spanier, das gab es überall in Südamerika, indigene Gruppen behielten dort aber einen hohen Anteil statt unterzugehen. Und dann: Es gab speziell Richtung Peru nach der französischen Revolution eine französische Einwanderungwelle, dann Afrikaner über eine Sklavereiphase, im letzten Jahrhundert kamen speziell nach Peru dann noch Japaner und Chinesen. Und aus allem entstand wirklich Neues, entwickelte sich Eigendynamik.
Bei Nachbar Kolumbien war das viel weniger ausgeprägt und vor allem die letzten hundert Jahre war der Zustrom und die Dynamik anderer "Zutaten" gering - die Küche ist folgerichtig einfach, wird sehr viel weniger geschätzt, als unkreativ eingestuft.
Curry deiner erwähnten Currywurst ist übrigens selber das Ergebnis so eines Kontakts, zwischen britischer und indischer Küche. Die Fertigmischung war eine britische Idee, in Indien wurde damals nur frisch gemischtes Gewürz verwendet und das in allerlei anderen Mischungen und vor allem einzeln. Die Briten mit ihrer eher gewürzarmen Tradition wollten etwas haltbares mitnehmen und fertig - Curry, seit dem 18. Jahrhundert. Als solches war es auch bald auf dem europäischen Kontinent bekannt. Die Nazierzählung mit Peter Hildebrand ist allerdings ein typisches Wikipedia-Märchen, für das das mehr als zweifelhafte Werk von Koch und Lauenburger begierig verwurstet wurde. Man kann ja heute gut Bücher verkaufen, indem man Herkunftsgeschichtchen schreibt oder aufpoliert. Eine These reicht schwupp ist das Buch da.
Bis heute "gebiert" Curry neue erfolgreiche Dinge - mal die Joppiesauce aus den Niederlanden probiert?